Die „unnötigen Pfleglinge“ der Wildtierhilfe Wien

Hausrotschwanz-Nestling

Wir sind in letzter Zeit häufiger in die Kritik gekommen, wir würden Wildtiere, die keine Hilfe benötigen, an andere Tierschutzorganisationen schicken (weil wir keinen Platz mehr haben oder andere Pflegestellen näher sind). Diese angeblich unnötigen Pfleglinge würden sich bester Gesundheit erfreuen, man hätte die Finder anweisen sollen, diese sitzen zu lassen. Diese Stimmen werden vor allem im Hochsommer laut, wenn das Telefon ununterbrochen läutet und bei allen Tierschutzvereinen die Kapazitäten knapp werden. Wir möchten daher Stellung beziehen und erklären, wie wir vorgehen, wenn wir wegen eines (Jung-)Vogels kontaktiert werden.

Brauchen Ästlinge Hilfe?

Im Speziellen wird uns vorgeworfen, dass wir scheinbar unnötige Ästlinge in Pflege nehmen. Ästlinge sind Vögel, die noch flugunfähig aber voll befiedert das Nest verlassen und am Boden von den Eltern weitergefüttert werden.

Sicher ist eine Ferndiagnose immer schwierig, daher lassen wir uns Fotos und Videos schicken und stellen eine Reihe von Fragen. Hängt ein Flügel, humpelt der Vogel oder schläft er dauernd in aufgeplusterter Körperhaltung ein, dann stimmt etwas nicht mit dem Vogel, auch wenn dieser bereits ein Ästling ist. Nestlinge, Ästlinge und erwachsene Tiere brauchen gleichermaßen Hilfe, wenn sie immer wieder umkippen, den Kopf verdrehen, sich überschlagen. Liegt ein Ästling neben seinen bereits toten Geschwistern, zahlt es sich aus, den Vogel sicherheitshalber einem Tierarzt vorzustellen. Auch dann, wenn der Vogel von einer Katze oder einem Hund erwischt wurde, spielt das Alter des Tiers keine Rolle. Selbst wenn das Tier auf den ersten Blick unversehrt aussieht, empfehlen wir eine genaue tierärztliche Untersuchung – kleine Verletzungen werden oft übersehen. Bei unverletzten Ästlingen schlagen wir den AnruferInnen stets vor, aus größerer Entfernung 2 h abzuwarten, ob die Eltern noch zum Füttern kommen. Schwierig wird es dann, wenn Ästlinge angeblich tatsächlich über 2 h nicht von den Eltern versorgt wurden, aber noch in einem guten Zustand zu sein scheinen. Haben sich die Eltern vielleicht beobachtet gefühlt und kamen deswegen nicht zurück? Im Zweifelsfall lassen wir uns solche Tiere schicken, schauen uns den Ernährungszustand an und lassen die Vögel auch zurückbringen, falls wir zu dem Schluss kommen, dass sie noch von den Eltern gefüttert werden.

Nestlinge immer ins Nest zurücksetzen?

Nestlinge hingegen, also oft nackte oder noch teilweise nackte Jungvögel, die im Nest sein sollten, werden am Boden nicht (!) von den Eltern weiterversorgt. Leider unterscheiden manche Tierschutzorganisationen nicht zwischen Nestling und Ästling. Das Motto lautet: „Alles, was sich außerhalb des Nests befindet und Federn hat, ist immer ein Ästling und braucht automatisch keine Hilfe.“ Fällt ein Nestling aus dem Nest, werden die FinderInnen von uns angehalten, diesen wieder zurückzusetzen, vorausgesetzt das Nest ist erreichbar (und der Vogel ist unverletzt!). Fällt ein ganzes Nest herunter, kann man probieren, dieses in einen Korb zu legen und mit Kabelbindern in einem Umkreis von 25 m an einem Baum zu befestigen und muss beobachten, ob die Eltern wieder kommen um zu füttern. Bei den derzeitigen Temperaturen (oft über 30 °C) haben wir aber die Erfahrung gemacht, dass zurückgesetzte Nestlinge sehr bald wieder springen werden: Sie versuchen der Hitze zu entkommen, haben bereits einen Hitzschlag und benötigen Infusionen. Nestlinge haben meist ein sehr geringes Gewicht, was physikalisch bedingt selbst bei Stürzen aus großer Höhe Knochenbrüche bis zu einem gewissen Grad vorbeugt. Gleichzeitig sind die Knochen der Extremitäten aber sehr dünn und noch weich, daher sind Beinbrüche oft vorprogrammiert, die von den AnruferInnen aber häufig nicht entdeckt werden und uns ohne Foto daher gar nicht erst auffallen würden. Auch haben diese Tiere sehr häufig schlimme innere Blutungen durch den Sturz. Nicht selten sieht man bei nackten Jungvögeln, dass der Bauch voller Hämatome ist, die rot-bläulich durch die Haut durchschimmern. Die Nestlinge, die momentan bei uns ankommen, sind definitiv in keinem guten Zustand.

Es gibt Nestlinge und Ästlinge, so einfach ist das!

Bringt es unserer Meinung nach wirklich etwas, pauschal zwischen Nestlingen und Ästlingen zu unterscheiden? Nein.
Es gibt nämlich noch Vögel, die bereits aussehen wie Ästlinge, dabei handelt es sich aber eigentlich noch um Nestlinge, die zu früh aus dem Nest gesprungen/gefallen sind. Das sind oftmals Vögel, die zwar fast voll befiedert sind, sich aber noch nicht mit den Beinen hochdrücken können und stattdessen am Bauch liegen. Ist das Nest nicht erreichbar oder nicht auffindbar, sodass man den Nestling nicht zurücksetzen kann, oder fällt bzw. springt der Vogel auch nach dem Zurücksetzen immer wieder aus dem Nest, dann braucht der Kleine unserer Auffassung nach Hilfe. Außerdem verlassen einige Vogelarten (insbesondere Höhlenbrüter) das Nest bereits einigermaßen oder vollkommen flugfähig, haben also gar keine echte Ästlingsphase. Findet man solche Vögel am Boden, kann etwas nicht stimmen.

Sonderfall Schwalben und Mauersegler

Schwalben und Mauersegler verlassen bereits flugfähig das Nest und verbringen ihr ganzes Leben in der Luft (Mauersegler schlafen sogar in der Luft!): Sowohl die Jungtiere als auch die erwachsenen Tiere brauchen Hilfe, wenn sie am Boden aufgefunden werden, selbst wenn keine offensichtlichen Verletzungen aufzufinden sind. Diese Tiere haben keine Ästlingsphase.

Von vielen Seiten wird den AnruferInnen geraten, die Vögel einfach in die Luft zu werfen oder in ein Gebüsch in der Nähe zu setzen. Befolgt man diesen Ratschlag ist die Gefahr groß, dass die geschwächten oder verletzten Tiere scheinbar erholt davonfliegen und im nächsten Dickicht verschwinden, wo man sie nicht mehr findet, und dort dann zugrunde gehen.
Mauersegler, die wir bekommen, sind stets entweder noch flugunfähige Jungtiere, massiv abgemagerte Erwachsene oder Tiere, die an einer Verletzung bzw. einem Schädel-Hirn-Trauma leiden und weitere Pflege benötigen! Wir hatten Fälle, bei denen die komplette Schädeldecke offen war, aber durch das dicht wachsende Kopfgefieder war das auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen – solche Tiere werden aber nicht selten von anderen Tierschutzvereinen abgelehnt, die uns dann ankreiden, dass es sich auch diesmal um einen der angeblich vielen Vögel handle, die wir vollkommen zu Unrecht an andere Pflegestellen weiterschicken wollten.

Weitere Gefahren

Eine ebenfalls schwierige Situation besteht dann, wenn Wildtiere sich in einer unmittelbaren (durch den Menschen verursachten) Gefahrensituation befinden, wie auf einer Straße, auf einem Kinderspielplatz oder auf einer Baustelle. Wir versuchen nach Möglichkeit auch in solchen Fällen Wildtiere in der Natur zu belassen und leiten die FinderInnen an, die Tiere an eine sichere Stelle im näheren Umkreis zu setzen oder die Gefahrenstelle abzusichern. Nur in Ausnahmefällen nehmen wir solche Tiere in Pflege oder bemühen uns, Wildtiere unter Absprache mit den zuständigen Instanzen umzusiedeln.

Ferndiagnosen in 5 sec

Unsere AnruferInnen haben in der Regel wenig Erfahrungen mit Wildtieren, man kann daher nicht von ihnen erwarten, die Lage richtig einzuschätzen: Häufig ist der Gesundheitszustand der Tiere noch viel schlimmer, als es ihnen vorkommt. „Ein Bein ist nicht ganz grad.“ heißt dann zum Beispiel, dass der Vogel mit waagrecht stehenden ausgekugelten Beinen bei uns ankommt. „Der Flügel hängt.“ bedeutet bei einem flugfähigen Vogel manchmal, dass nicht der Flügel etwas hat, sondern ein Bein gebrochen ist und der Vogel probiert, sich am Flügel abzustützen. Ohne Foto hätten wir schon manch einen Vogel sitzen gelassen.

Aber nicht nur die FinderInnen selbst können oft nicht beurteilen, ob mit einem Tier etwas nicht stimmt. In aller Eile passiert das auch TierärztInnen oder Auffangstationen. Letztendlich wurden uns schon von Leuten Vögel gebracht, die von anderen Organisationen als unnötig deklariert und weggeschickt wurden, diese erlagen dann bei uns entweder noch bei der Ankunft oder kurz danach ihren Verletzungen oder ihrem katastrophalen Ernährungszustand.

Es muss auch ergänzt werden, dass an einem Vogel weit mehr dran ist, als Flügel. Ein Ästling kann kurze Strecken fliegen, selbst wenn sein Bein gebrochen ist. Er kann auch dann fliegen, wenn ihm die Katze in den Bauch gebissen hat. Oft wird die alleinige Flugfähigkeit als ausreichendes Merkmal zur Beurteilung des Gesundheitszustandes angesehen – das ist es jedoch nicht ausreichend. Damit wollen wir nicht sagen, dass jedes Tier verletzt oder schwer krank ist, das zu uns kommt. Aber auch ein verwaistes (oder von einem Haustier gebrachtes) Jungtier, das ansonsten gesund ist, benötigt weitere Pflege.

Mauersegler mit offener Schädelfraktur

In die Luft werfen? Ein „unnötiger“ Mauersegler mit offener Schädelfraktur, die von einem Tierarzt übersehen wurde.

Taube mit Spreizbeinen

Taube mit Spreizbeinen (ausgekugelte Gelenke!), was vom Finder als „ich glaube, es hat ein Problem mit dem linken Bein“ beschrieben wurde.

Dehydrierter Sperling

Diesen dehydrierten Sperling bei über 30 °C in sein Nest zurückzusetzen hätte seinen Tod bedeutet.

Tatsächlich unnötig aufgenommene Tiere

Personen, die ein Tier ohne triftigen Grund (etwa aus Sorge, weil der Vogel am Boden neben der Straße sitzt) unbedingt zu uns bringen möchten, weisen wir stets ab. Wir wollen keinesfalls, dass Vogeleltern unnötig ihre Kinder genommen werden. Wildtiere sind in der Stadt zahlreichen Gefahren ausgesetzt, man sollte den Jungen auch die Chance geben, ihr Leben so zu meistern, wie es bereits ihre Eltern geschafft haben. Passiert uns doch einmal der Fehler, uns einen gesunden Vogel bringen zu lassen, schicken wir die FinderInnen mit ihrem Tier wieder an den Fundort zurück, damit es schnellstmöglich wieder dort freigelassen werden kann. Handelt es sich dabei um ein Jungtier, sollen die Leute abwarten, ob die Eltern auch wirklich wiederkommen, um zu füttern.

Selbstverständlich kann es auch vorkommen, dass wir tatsächlich unnötig aufgesammelte Tiere pflegen oder an andere Organisationen weiterschicken. Das passiert dann, wenn die AnruferInnen gesunde, unverletzte Tiere bereits aufgenommen haben und keine Möglichkeit besteht, diese sicher an den Fundort zurückzubringen oder wenn es sich z.B. um Jungtiere handelt, welche sich seit mehreren Tagen bei den FinderInnen in Pflege befinden.

Mühsam aber notwendig – Telefonate

Zusammenfassend möchten wir daher klarstellen, dass es natürlich sehr schwierig ist, über das Telefon oder anhand von Bildern den Gesundheitszustand eines Wildtiers abzuschätzen. Man erwartet immerhin auch nicht von ÄrztInnen, Diagnosen und Therapiepläne lediglich anhand von Fotos oder eines Telefonats zu erstellen.

Wir versuchen stets, uns über eine Kombination eines ausführlichen Gesprächs und Fotos/Videos ein Bild zu machen, wobei sich für uns bis jetzt ganz klar herausgestellt hat, dass man nicht nach wenigen Sekunden beurteilen kann, ob ein voll befiederter am Boden sitzender Vogel automatisch keine Hilfe benötigt. Jeder Fall ist individuell zu besprechen!

Meinungsverschiedenheiten auf Kosten der Tiere

Jeder Tierschutzverein kommt mit einem Set an eigenen Erfahrungen. Unterschiedliche Vorgehensweisen haben sich bewährt, und das ist in Ordnung, vor allem wenn man bedenkt, dass Wildtierpflege (noch) wenig auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen beruht, sondern sich primär aus Erfahrungswerten und Vorwissen früherer Generationen ergibt, welches von Pfleger zu Pfleger ganz unterschiedlich sein kann. Die Arbeit mit hilfsbedürftigen Tieren ist an sich bereits belastend genug. Viel schlimmer wird es, wenn aus den eigenen Reihen Kritik vorgetragen wird, die gänzlich haltlos ist. Wir möchten daher an all jene appellieren, die sich in diesem Fall angesprochen fühlen, die AnruferInnen ernst zu nehmen, sich Zeit zu nehmen und gewissenhaft zu beurteilen, ob mit den Fundtieren vielleicht doch etwas nicht stimmt – immerhin ziehen wir alle am selben Strang und wollen das Beste für die Tiere! Unserer Erfahrung nach können AnruferInnen oft schwer in Worte fassen, was genau ihnen an ihrem Fundtier eigenartig vorkommt. Schon oft hat sich aber herausgestellt, dass sie mit ihrem Bauchgefühl absolut richtig lagen.

Es ist schlimm, ein Tier der Natur zu entreißen, das gesund ist. Es ist noch viel schlimmer, ein verletztes Tier in die Natur zu schicken, um es dort verenden zu lassen, weil man sich nicht die Zeit genommen hat zu beurteilen, wie es tatsächlich um den Gesundheitszustand steht.

Jungvogel gefunden?

Falls Sie sich nun fragen, was konkret zu tun ist, wenn Sie einen hilfsbedürftigen Jungvogel auffinden, können Sie sich gerne an unserem Notfallsleitfaden orientieren. Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob das Tier tatsächlich Hilfe braucht, scheuen Sie nicht davor, trotzdem anzurufen – wir beraten Sie gerne.